Es ist ein Gefühl, das sich kaum in Worte fassen lässt: Jedes Mal, wenn ich nach Mauthausen komme, spüre ich diesen Kloß im Hals. Es ist eine Mischung aus Trauer, Fassungslosigkeit und einer bedrückenden Stille, die mich umgibt. Der Boden, auf dem ich gehe, ist durchtränkt von der Geschichte unvorstellbarer Grausamkeit. Hier wurden zigtausende Menschen auf bestialische Weise gefoltert, zu Tode gequält und „durch Arbeit vernichtet“. Die steilen Stufen der sogenannten „Todesstiege“, die Granitsteinbrüche und die Überreste der Gaskammern sind stumme Zeugen dieser Verbrechen. Doch sie sprechen eine unmissverständliche Sprache: „Nie wieder.“
Das Konzentrationslager Mauthausen wurde 1938 errichtet und war eines der brutalsten Lager des NS-Regimes. Es gehörte zu den wenigen Lagern mit der Klassifikation „Stufe III“, was „Vernichtung durch Arbeit“ bedeutete. Häftlinge mussten unter unmenschlichen Bedingungen im Steinbruch arbeiten, oft bis zum Tod. Hunger, Gewalt und systematische Ermordung prägten den Alltag. Insgesamt wurden über 100.000 Menschen in Mauthausen und seinen Nebenlagern ermordet – sei es durch Exekutionen, Gaskammern oder die gezielte Zerstörung ihrer Körper durch Arbeit und Unterversorgung.
Heute hatte ich diesen Kloß wieder im Hals, als ich für eine Veranstaltung des Mauthausen Memorials und der Initiative „Perspektive Mauthausen“ dorthin kam. Der Anlass war der 80. Jahrestag der Mühlviertler Menschenhatz, auch bekannt als die sogenannte „Mühlviertler Hasenjagd“. Persönlich mag ich diesen Begriff nicht – er ist zynisch und entmenschlichend. Wir wanderten heute auf den Spuren der Ausbrecher von damals und beschäftigten uns gemeinsam mit Guides aus dem Memorial intensiv mit den Ereignissen jener Zeit. Ebenso vor Ort als Guide im Einsatz: Meine Kollegin im Nationalrat, die SPÖ-Abgeordnete Sabine Schatz. Respekt an dieser Stelle für ihr Engagement in dieser Sache.
Was war die Mühlviertler Menschenhatz? Am 2. Februar 1945 zwischen Mitternacht und 1 Uhr früh versuchten rund 500 sowjetische Offiziere aus Block 20 des KZ Mauthausen zu fliehen – ein verzweifelter Akt angesichts ihres sicheren Todes. Wer im Block 20 war, galt im NS-System nicht als Mensch, sondern bestenfalls als sogenannter „Untermensch“. Für diese Rotarmisten galt der sogenannte „K-Erlass“. Das „K“ steht vermutlich für „Kugel“, könnte sich aber auch auf Wilhelm Keitel beziehen, einen hochrangigen Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW). Keitel war bekannt für seine bedingungslose Loyalität gegenüber Hitler und könnte Namensgeber des Erlasses gewesen sein.
Der K-Erlass war ein Geheimbefehl des NS-Regimes aus dem März 1944. Er wies an, geflohene Offiziere und ranghöhere Unteroffiziere nach ihrer Ergreifung ins KZ Mauthausen zu überführen und dort im Rahmen der sogenannten „Aktion Kugel“ zu ermorden – meist durch Erschießung. Der Erlass verstieß gegen das Genfer Abkommen von 1929, das bei Flucht lediglich disziplinarische Strafen vorsah. Viele Gefangene wurden nach ihrer Ankunft in Mauthausen ohne Registrierung direkt exekutiert oder durch systematisches Quälen dem Tod überlassen. Für die etwa 500 Ausbrecher in jener Nacht vom 1. auf den 2. Februar war klar: Dies war ihre einzige – wenn auch minimale – Chance zu überleben.
Die SS startete daraufhin eine großangelegte Fahndung unter dem zynischen Namen „Mühlviertler Hasenjagd“. Neben SS-Truppen beteiligten sich auch Wehrmacht, Volkssturm und Zivilisten an der Jagd auf die Geflohenen. Fast alle wurden wieder eingefangen und brutal ermordet – erschlagen oder erschossen. Die Ansage war eindeutig: Niemand sollte lebend ins Lager zurückgebracht werden.
Bei der Wanderung im Beisein von Guides des Memorial Mauthausen vom Gelände des ehemaligen KZ nach Ried in der Riedmark konfrontierten wir uns mit dem Geschehen von damals. Wir gingen durch die Gegend, in der damals ca. 500 Menschen um ihr Leben rannten, mit der minimalsten Chance aufs Überleben. Wir beschäftigten uns mit den Menschen vor Ort, mit dem wie sie sich verhielten, und versuchten für uns selber nachzuvollziehen, warum jemand so handelte wie er oder sie eben handelt. Wir erfuhren heute von einem Mann, der sich weigerte, einen Häftling zu erschießen, während ein anderer diesen Befehl schulterzuckend ausführte. Ein damals 15-Jähriger verglich die Jagd mit einer Treibjagd und beschrieb, wie die Leichen tagelang am Straßenrand liegen blieben. Ein anderer Mann half zunächst einem Geflüchteten mit Essen, verriet ihn dann jedoch aus Angst um seine Familie an die SS.
Doch es gibt auch Geschichten des Mutes: Anna Hackl war damals ein 13-jähriges Mädchen, als ihre Eltern zwei entflohene Häftlinge versteckten. Trotz der Gefahr für ihr eigenes Leben entschieden sich die Hackls, den Männern zu helfen. Sie versteckten sie mehrere Tage lang und versorgten sie mit Nahrung. Dank dieser Hilfe konnten die beiden Männer als zwei von insgesamt elf Überlebenden des Ausbruchs gerettet werden.
Anna Hackl lebt noch heute und erzählt mit fast 94 Jahren ihre Geschichte in Schulen – allein letztes Jahr sprach sie bei 66 Veranstaltungen mit Schüler:innen über das Erlebte. Sie zieht dabei Parallelen zwischen damals und heute: Was passiert, wenn Hass und Hetze politische Diskurse dominieren? Ihre klare Haltung beeindruckt zutiefst.
Der Kloß im Hals bleibt – da mache ich mir nichts vor. Wenn ich im März zur nächsten Gedenkveranstaltung zurückkehre, weiß ich schon jetzt: Dieses Gefühl wird wieder da sein – diese Mischung aus Trauer und Fassungslosigkeit angesichts des Leids und der Unmenschlichkeit, die Menschen anderen Menschen angetan haben im Namen einer mörderischen Ideologie. Aber es ist auch gut zu wissen, dass es die anderen gab, jene die geholfen haben, denen Menschen nicht egal waren. Weil sie Menschen waren, weil sie ihre Menschlichkeit behalten haben.
Umso wichtiger: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!