Schon einmal den Begriff „Taubenschach“ gehört? Er beschreibt eine absurde und frustrierende Form der Auseinandersetzung: Egal, wie gut man Schach spielt, die „Taube“ wird alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und stolzieren, als hätte sie gewonnen. Was sich lustig anhört, ist in Wirklichkeit ein riesiges Problem für unsere Gesellschaft und unsere Demokratie, wenn es öffentlich auf großer Plattform ausgetragen wird. Denn, die Metapher steht für Diskussionen, in denen eine Seite nicht an einem echten Austausch interessiert ist, sondern nur daran, die Debatte zu zerstören oder sich selbst als Sieger darzustellen – unabhängig von Fakten oder Logik. Ich erlebe das selber regelmäßig auf meinen Social-Media-Accounts. Manchmal ist das Ganze lustig, weil absurd. Manchmal ist extrem nervig, weil wirklich jeder Diskurs zerstört wird.
Ein solches Verhalten ist eng mit dem Konzept des „False Balancing“ verbunden, wenn die Plattform entsprechend ist. Die journalistischen Praxis stellt konträre Meinungen als gleichwertig dar, auch wenn eine davon wissenschaftlich nicht haltbar ist. Das führt dazu, dass Desinformation legitimiert wird und den Eindruck erweckt, sie sei Teil eines ausgewogenen Diskurses. Wir kennen das aus der Normalisierung des Rechtsextremismus in unserer Gesellschaft, aber auch im Diskurs zu Covid konnten wir dieses Verhalten extrem oft erleben. Genau diese beiden Aspekte hatte die geplante Live-Diskussion in ORF NÖ bei „Ein Ort am Wort“ in Zwettl.
Die Sendung sollte am 13. März 2025 anlässlich des fünfjährigen Jubiläums der Corona-Pandemie stattfinden und über „Fakten und Fehler“ der damaligen Maßnahmen diskutieren. Neben renommierten Experten wie Virologe Norbert Nowotny und Intensivmediziner Christoph Hörmann war auch Martin Rutter eingeladen – ein prominenter Gegner der Corona-Maßnahmen und Verbreiter von Verschwörungsnarrativen. Die Einladung Rutters stieß auf massive öffentliche Kritik. Doch anstatt auf diese zu reagieren, meinte der ORF NÖ noch, dass er doch „alle Standpunkte auf einen Tisch“ bringen wolle. Erst als Nowotny und Hörmann ihre Teilnahme zurückgezogen hat, da sie nicht bereit waren, mit Rutter auf einem Podium zu sitzen, wurde die Sendung schlußendlich gecancelt. Die Entscheidung der beiden Wissenschafter ist nicht nur nachvollziehbar, sondern auch notwendig: Eine Debatte mit Rutter hätte wohl einer Partie Taubenschach geglichen – eine Inszenierung, bei der fundierte Argumente ebenso wie differenzierte Sichtweisen keine Chance gegen Desinformation gehabt hätten.
Dass der ORF NÖ die Sendung nun absagt, wäre nicht nötig, es wäre anders gegangen: man hätte schlicht auf die Rutter-Einladung verzichten müssen. Dann aber auch noch diese Einladung zu verteidigen, nachdem es von mehreren Seiten – auch von mir – massive Kritik gab, war zudem ein absurdes Schauspiel. Man hätte im Vorhinein wissen müssen, wen man sich da einlädt: Martin Rutter hat sich während der Pandemie als zentrale Figur der Maßnahmengegner:innen etabliert. Er verbreitet bis heute gezielt Verschwörungserzählungen und schürt auf seinen Telegram-Kanälen und bei seinen Demos bzw. Veranstaltungen regelmäßig Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Institutionen mit Hilfe von Desinformation und Verschwörungserzählungen. Seine Aktivitäten waren Mitschuld an der Polarisierung der Gesellschaft. Expert:innen und Wissenschafter:innen wurden in der Vergangenheit ebenso wie Politiker:innen nicht selten Zielscheibe für Angriffe. So berichtete die Virologin Dorothee von Laer in einem Interview mit dem profil von den massiven Anfeindungen, denen sie ausgesetzt war: „‚Verkriech dich doch in ein deutsches Labor zurück, du Judenfotze‘ war fast alltäglich.“. Diese Hassbotschaften belasteten sie so sehr, dass sie zeitweise nur noch mit Perücke nach draußen ging. Sie betonte zudem: „Als Virologin ist es meine Aufgabe, Menschen vor einer Infektion zu schützen.“ Dass diese wissenschaftliche Perspektive von Maßnahmengegner:innen bewusst missverstanden wurde, zeigt die gezielte Agitation gegen Expert:innen während der Pandemie.
False Balancing ist, wenn Desinformation salonfähig gemacht wird: Die Einladung Rutters durch den ORF wurde zunächst damit gerechtfertigt, dass „alle Standpunkte“ gehört werden sollten. Doch genau hier liegt das Problem des False Balancing: Die Gleichsetzung von wissenschaftlich fundierten Positionen mit Verschwörungserzählungen untergräbt die Glaubwürdigkeit des Diskurses und legitimiert Desinformation als vermeintlich gleichwertige Meinung. Nicht umsonst musste sich der ORF auch von mir den Vorwurf gefallen lassen, Rutter eine Plattform zu bieten, die er nutzen könnte, um seine Agenda weiter voranzutreiben. Eine Diskussion mit Rutter hätte nicht nur den wissenschaftlichen Standpunkt geschwächt, sondern auch das Vertrauen in öffentliche Institutionen weiter beschädigt.
Besonders brisant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Rutters „Impfopfer“-Vereine offenbar Fördermittel aus dem niederösterreichischen Corona-Fonds erhalten haben. Diese Mittel wurden für Veranstaltungen genutzt, bei denen teils fragwürdige Inhalte verbreitet wurden. Der Rechnungshof kritisierte diesen Umgang mit öffentlichen Geldern scharf und stellte fest, dass weder klare Förderkriterien noch eine ausreichende Überprüfung der Inhalte existierten. Es liegt nahe zu vermuten, dass diese Förderung Rutter den Anschein von Seriosität verliehen haben könnte – was wiederum den ORF Niederösterreich möglicherweise dazu bewogen hat, ihn als Diskussionspartner einzuladen. Sollte dies tatsächlich ein Beweggrund gewesen sein, wäre dies äußerst kurzsichtig gewesen und würde nicht gerade für die Recherchefähigkeit des Senders sprechen.
Die Absage der Diskussion wäre jedenfalls vermeidbar gewesen. Mit einer sinnvollen Einladungspolitik, die einen faktenbasierten Diskurs in das öffentlich rechtliche Fernsehen bringt. Es hätte eine durchaus gute Debatte sein können, im wohltuenden Unterschied zu dem was aus selbst ernannten „alternativen Medien“ oder vom Brausesender „Servus TV“ regelmäßig propagiert wird. Ohne die Teilnahme von Experten wie Nowotny und Hörmann ist aber diese faktenbasierte Debatte nicht möglich. Die Causa zeigt exemplarisch die Spannungen zwischen Aufmerksamkeitsheischerei auf der einen Seite und journalistischer Verantwortung auf der anderen. So muss sich der ORF Niederösterreich den Vorwurf gefallen lassen, der Heischerei den Vorzug gegeben zu haben. Anstatt den nötigen gesellschaftlichen Dialog zu fördern, wurde das Vertrauen in den Sender beschädigt. Es bleibt eine klare Erkenntnis: Nicht jede Meinung verdient eine Bühne – vor allem dann nicht, wenn sie auf Desinformation basiert oder dazu beiträgt, Wissenschaftler:innen persönlich anzugreifen und ihre Arbeit zu sabotieren. Was also den ORF NÖ angetrieben hat, bleibt im Dunkeln.